Leseprobe_1 aus “Schachbrettblume”

04   Wo bist du?

Papa litt auch weiter während des gesamten Rücktransportes unter heftigen Malariaanfällen, es fehlte an Wasser, an Essen, von den hygienischen Umständen ganz zu schweigen. Aber er kämpfte, gab nicht auf und er schaffte es bis in den Westerwald, wo Mama damals lebte, hoffte und auf ihn wartete. Sie hatte eine Benachrichtigung über den Rücktransport ihres Mannes aus der russischen Gefangenschaft erhalten und war überglücklich. Zu Fuß machte sie sich auf den weiten Weg zum Bahnhof und wartete und wartete.
Schließlich kam dann auch ein Zug; es zischte und quietschte, beißender Qualm quoll von den Bahngleisen empor bis die Räder endlich stillstanden. Viele Männer stiegen oder stolperten aus den Eisenbahnwaggons.
Meine Mutter sah ihren so sehnsüchtig erwarteten Mann nicht. Im Gedränge rannten alle aufeinander zu, fielen sich schreiend und weinend in die Arme, vor Glück, den anderen wiederzusehen. Nur Mama stand verloren und einsam da und weinte leise vor Enttäuschung. Sie hatte sich doch so auf die Wiederkehr ihres geliebten Mannes gefreut!
Er war nicht im Zug gewesen.
Niedergeschlagen machte Mama sich auf den weiten Nachhauseweg, nachdem der Bahnsteig öde und menschenleer war, sie hatte gewartet bis zum Schluss, der Zug war längst schon weitergefahren.

Halb wahnsinnig vor Angst, dass ihr geliebter Mann diesen Rücktransport vielleicht gar nicht überlebt hatte, schluchzte sie nur noch. Ihre Augen waren schon tränenleer, es war alles einfach nur trostlos.
Für meinen Vater war die Ankunft ebenso trostlos gewesen!
Der Zug hatte eine Station zuvor gehalten, wo sich mein Vater aus der hintersten Ecke des Eisenbahnwaggons hinausgeschleppt hatte und ausgestiegen war, weil er geglaubt hatte, auf dem richtigen Bahnhof zu sein. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, das lange Eingepferchtsein hatte ihn fast gehunfähig gemacht. Ihm war schwindelig, es rauschte und pochte in seinem Kopf. Seine Knie zitterten, er konnte seine Beine fast nicht ruhig halten. Seine Augen mussten sich erst einmal nach der Dunkelheit im Waggon an das gleißende Tageslicht gewöhnen und suchten nun im großen Menschenknäuel nach ihr, seiner geliebten Frau.
Er versuchte, sich gerade hinzustellen, er wollte doch einen möglichst guten Eindruck machen, er atmete tief durch und schaute sich in alle Richtungen um. Aber er konnte sie, seine geliebte Maria, nirgendwo entdecken. Sie kam nicht auf ihn zugelaufen mit offenen Armen, so, wie er es sich die lange Zeit im Waggon ausgemalt hatte.
Wo war sie bloß? Warum konnte er sie jetzt nicht in seine Arme schließen? Hatte sie seine Nachricht nicht erhalten?
Er wartete eine Zeit lang, konnte gar nicht richtig begreifen oder reagieren. Auch er war enttäuscht, was war nur passiert?
Sie wäre doch ganz bestimmt gekommen, wenn sie die Benachrichtigung erhalten hätte. Aber er war zu ausgezehrt und geschwächt, um lange darüber nachzudenken.
Dieses letzte kleine Stückchen würde er nun auch noch schaffen! Das wäre ja gelacht!

Und… er schaffte es!

Er stand vor der Haustür des Elternhauses seiner Frau in Rennerod und klopfte an. Mama hatte im Dachgiebel ein winziges Räumchen, wo sie wohnen konnte. Noch leicht apathisch öffnete meine Mutter die Tür, schaute auf ein wirklich erbärmliches, abgemagertes, kahlgeschorenes Etwas und wollte gerade schon die Tür wieder schließen, als ihr das Gegenüber nur noch den Namen „Maria“ entgegenhauchte und sagte:
„Erkennst du mich denn nicht? Ich bin es doch!“

Total entkräftet fiel er dann vor ihr auf den Boden. Er hatte das Bewusstsein verloren. Das letzte Stückchen Kraft war gewichen; für einen kurzen Moment lang. Meine Mutter begriff schlagartig: Der da vor ihren Füßen lag, noch ohnmächtig, das war ihr Mann, ihr Peter!

Sie weinte, sie lachte hysterisch, sie schrie, sie schüttelte ihn. Mit zitternden Händen nahm sie sein Gesicht und küsste seine Augen, seine Wangen, seinen Mund.

Im ganzen Haus liefen sie zusammen und standen um die beiden herum. Alle waren so überrascht und doch irgendwie geschockt und dann im gleichen Augenblick auch wieder überglücklich, genau wie meine Mutter, die sich langsam von ihrem Schock erholte.
Durch ihr Rütteln und das Benetzen seiner Lippen mit Wasser war Papa schnell wieder bei Bewusstsein.
Man ließ die beiden erstmal in einem Raum allein.
Irgendwann später wurde die Badewanne mit warmem Wasser gefüllt. Eine gute Tasse Kaffee war aufgebrüht, frisch gebackenes Brot war mit herrlich duftender Erdbeermarmelade bestrichen und jemand aus der Nachbarschaft hatte etwas Neues zum Anziehen gebracht. Selbst diese Anziehsachen waren Papa jedoch noch viel zu groß. Er war ja nur noch Haut und Knochen.

Ich denke, für meine Mutter muss es ein Riesenschock gewesen sein, an Stelle eines stattlichen, athletischen, humorvollen Mannes nun neben einem fast bis zum Skelett abgemagerten Mann im Ehebett zu liegen. Aber das Wichtigste war doch: Die beiden hatten sich wieder!
Bisher hatte ich mir allein darüber überhaupt keine Gedanken gemacht, was auch sie damals empfunden haben musste mit gerade ’mal fünfundzwanzig Jahren! Wie sie wohl die erste Zeit gelitten und mit niemanden hierüber hatte reden können.

Ich bringe auch ihr diesbezüglich meine Hochachtung entgegen!
Mein Vater wurde nun ganz allmählich wieder aufgepäppelt.
Der Krieg war vorüber und irgendwie musste es ja weitergehen und er wollte und musste Arbeit finden…

 

 

 

 

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